Zum Cut-off Scheiben
Gerne wäre ich noch etwas sitzengeblieben, aber ich muss weiter …mein Zeitplan. Die 8-Tausender Tour ist am Arber beendet, aber natürlich nicht unser Trail. Jetzt geht’s erstmal lange owie. Vor uns liegen 800 negative Höhenmeter in einem Rutsch. Auf einer brettlebenen Naturstraße geht es zunächst los. Nach anderthalb Kilometer werden wir nach links in den Wald geleitet. Jetzt ist es wieder Konzentration angesagt beim rasanten Downhill, der Schotterweg ist doch deutlich ruppiger und man muss wieder etwas mehr auf den Untergrund achten. Bis zum Kleinen Arbersee sind es gut 4 km, ich kann bis auf einen kurzen Trailabschnitt vor dem Arbersee zügig durchlaufen.
Bei der dritten Auflage des U.TLW 2018 ging es im Uhrzeigersinn noch fast komplett um den See, heute streifen wir ihn nur für 200 Meter an seinem Nordufer. Seine Besonderheit sind drei schwimmende Inseln. Als der See 1880 aufgestaut wurde, lösten sich die Moordecken vom Seeboden ab und die schwimmenden Inseln entstanden. Sie werden durch dickes Wurzelwerk zusammengehalten und können sich frei im See bewegen.
Zwei Mädels schließen von hinten auf mich auf. Ihr Tempo ist gut, so versuche ich dranzubleiben. Auf einem groben und steinigen Naturweg geht es weiter bergab. Ich finde ihn ziemlich unangenehm im Laufschritt zu bewältigen. Um nicht mal an einem Stein hängen zu bleiben, muss ich die Füße höher anheben, als mir lieb ist. Das kostet natürlich viel mehr Kraft. Ein ums andere Mal gerate ich so bei meiner Verfolgung ins Stolpern und vermeide jedes Mal gerade noch einen Sturz, was mich einige Flucher ausstoßen lässt.
Auf halben Weg vom Arbersee führt unsere Strecke an den Sollerbach, dem wir bis ganz nach unten folgen. Zu gerne würde ich einmal den einen Meter hinabsteigen und mir eine Mütze Wasser genehmigen, aber ich möchte auch meinen Lauf gerade nicht unterbrechen und an den Mädels dranbleiben. Den tiefsten Punkt unseres Downhills erreichen wir nach 32,5 km. Einen Kilometer führt uns ein Weg an der Weißer Regen entlang schwach bergan, ehe wir nach überqueren einer kleinen Kreisstraße zum Parkplatz an der Reischbrücke gelangen.
Wegen der hohen Temperaturen wurde hier eine zusätzliche Wasserstelle eingerichtet. Es gibt aber ausnahmslos nur Wasser. Zum Trinken und Nachfüllen und über den Kopf mit einem Schwamm. Auf dem 9 km langen Downhill habe ich immerhin wieder eine halbe Stunde gut machen können. Eine knappe Stunde bis zum Cut-off in Scheiben müsste doch eigentlich reichen. Laut Plan liegt dieser bei Kilometer 36. Die Helferin an der Station meint zu uns: Das schafft ihr locker, das Schlimmste ist vorbei.
Nach einer kurzen steilen Rampe verläuft der weitere Anstieg relativ gleichmäßig und unspektakulär. Aber laufbar ist die durchgängige Steigung für mich nicht mehr, so zieht sich der Kurs dahin und die Zeit verrinnt. Auf meiner Uhr sind die 36 km längst durch, aber Scheiben noch lange nicht in Sichtweite. Jetzt wird es zeitmäßig für mich doch nochmal eng. Eine lange Gerade am Waldrand entlang bietet als Abwechslung wieder einen schönen Fernblick auf den Großen Arber. Als ich zeitlich schon fast mit dem Erreichen des Cut-offs abgeschlossen habe, sehe ich nach mittlerweile schon fast 38 km Rennleiter Johannes in etwas Entfernung stehen. Er feuert mich nochmal an und erinnert mich an das Zeitlimit. Nach überqueren der Zeitmessung und der Scheibenstraße komme ich am Verpflegungsstand am Wanderparkplatz Scheibensattel an.
Hier haben sich gerade mehrere Läuferinnen und Läufer versammelt, wovon bestimmt einige ihren Lauf abbrechen und auf einen Rücktransport nach Lam warten. Johannes kommt mir gleich hinterher und meint: ich bin 30 Sekunden über der Zeit. Wenn ich will, darf ich aber weiterlaufen. Ok, ich lasse mich nicht lange betteln. Ein Gel und zwei Becher Cola und weg bin ich wieder, bevor er es sich noch anders überlegt.
Grenzlauf
Nachdem der Cut geschafft ist, bin ich irgendwie wohl nicht mehr richtig konzentriert und verpasse die Abzweigung nach links, Richtung Zwercheck. Hundert Meter später stehe ich an einer Gabelung ohne Streckenmarkierung. Bisher war eine Orientierung per GPX-Track nicht nötig, so habe ich ihn nicht benützt. Ich muss erst das Menü meines GPS durchblättern, um zu erkennen, dass ich falsch bin. Während ich kehrt mache, kommt mir auch schon eine junge Frau entgegen und begleitet mich zurück auf den richtigen Abzweig.
Unser nächster Aufstieg führt uns auf den Kamm des Künischen Gebirges zum Zwercheck auf 1333 m Höhe. Auf dem Bergrücken verläuft die Grenze zwischen Bayern und Böhmen. Bevor es ernst wird, dürfen wir aber noch für 500 Meter einer Forststraße folgen. Ich werde immer noch von dem Mädchen begleitet, das mich vorhin zurückholen sollte. Noch ein paar weitere Mitläuferinnen und -läufer haben sich kurz nach mir auf den Weg gemacht und liegen nach meiner Eskapade jetzt vor mir. Direkt vor mir läuft Ingo, wir sind uns heute auch schon öfters begegnet. Er wird ebenfalls von einer jungen Läuferin ohne Startnummer begleitet. Da wir beiden, gerade die letzten auf der Strecke sind, hege ich die Befürchtung, dass man uns bereits Besenläufer an die Seite gestellt hat. Viel später, klärt mich Ingo auf, dass es seine Töchter sind. Sie sind bereits am Vormittag den Rookie-Trail gelaufen und begleiten jetzt den Papa ab Scheiben bis ins Ziel. Das lob ich mir, so brauchen wir uns über den Nachwuchs keine Sorgen machen.
Stark verwurzelte und verblockte Pfade machen den steilen Aufstieg zu einer Herausforderung. Ich bin aber bei weitem nicht der Einzige, der sich hier hochquält. An einem Felsriegel mit Gipfelkreuz ist der einen Kilometer lange Aufstieg über den Zwerchecker Steig beendet. Ich habe viel Kraft gelassen und bin jetzt wieder über meinem Marschtempo. Über den weitflächigen, abgerundeten Gipfel laufen wir an weiß-blauen Grenzstangen entlang. Der Weg führt durch niedriges Buschwerk und ist sehr steinig und ruppig. Etwa einen Kilometer ziehen wir am Grenzkamm entlang. Östlich liegt der Böhmerwald, wie wir, rechts von den Stangen, somit statten wir wohl gerade Tschechien einen Besuch ab.
Leicht abwärts passieren wir das Naturkino Zwercheck. Auf den 20 nummerierten Logenplätzen hat man einen großartigen Überblick auf Arber, Osser und den gesamten Lamer Winkel. Ich würde jetzt allzu gerne auf einer der Holzbänke Platz nehmen und mir eine Pause gönnen, aber die Idee streicht mir mein Zeitenplan. Kurz darauf geht’s auch schon wieder runter vom Gipfelplateau.
Bis zum Einstieg in den Ossersteig liegen nun etwa 5 km leicht abfallend auf einer Schotterstraße vor uns. Normalerweise eine gute Möglichkeit, wieder Zeit gut zu machen, aber meine Beine wollen gerade partout nicht mehr wirklich laufen. Mit nur sporadischen Laufeinsätzen kann ich nix gut machen. Vor dem Aufstieg zum Osser wurde noch eine weitere Wasserstelle eingerichtet. Als ich dort ankomme, müsste ich laut Zeitplan bereits auf dem Gipfel des Osser sein. Das Zeitlimit von 11 Stunden ist somit in weite Ferne gerückt, bzw. praktisch unerreichbar. Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken hier die Segel zu streichen. Die zwei Mädels von der Wasserstation sind davon nicht so begeistert und motivieren mich weiterzulaufen. Dann soll es wohl so sein.
Über zwei Kilometer zieht sich der Ossersteig auf wurzeligen und steinigen Pfaden nach oben. Der Aufstieg ist anfangs nicht übermäßig steil oder besonders schwierig, erst zum Gipfel hin fordert der immer felsiger werdende Steig erhöhte Aufmerksamkeit. Die letzten Meter unterhalb des Gipfels ähneln beinahe alpinen Verhältnissen, inklusive Seilversicherung. Eine Helferin steht hier oben und bietet uns ein Wasserdusche aus einem Kanister an. Ingo und seine Mädels vor mir, nehmen das gerne an. Kurz müssen wir noch die felsige Gipfelregion des Großen Osser durchqueren, dann dürfen wir wieder ein paar Meter absteigen, um zur Bergwachthütte zu gelangen, wo die 4. VP auf uns wartet. Hier haben sich gerade wieder einige Mitstreiter eingefunden, scheinbar gedenken auch welche ihr Rennen hier abzubrechen. Wir sind alle spät dran, aber Getränke und Speisen sind noch zu haben. Bierbänke und -tische sind aber bereits auf einem LKW verstaut, somit bleibt mir nur ein Rastplatz im Gras.
Ich benötige dringend eine kleine Pause, unterdessen werde ich von einem Helfer schon gefragt, ob ich noch weiterlaufen möchte, es wären noch Plätze im Kleinbus frei. Ich bin jetzt überrumpelt und benötige etwas Bedenkzeit, aber wirklich ernsthaft habe ich es jetzt nicht mehr vor. So mache ich mich auch bald wieder auf den Weg, bevor der Helfer wieder zurückkommt und ich es mir doch noch anders überlege.
Die kleine Pause und Stärkung haben mir gutgetan, es läuft jetzt wieder besser. Bevor es richtig Abwärts geht, dürfen wir unterhalb des Gipfels des Kleinen Osser noch einige Klettereinheiten einlegen. Auf einem anspruchsvollen Pfad über armdicke Wurzeln und mannshohe Felsen geht es noch mehrmals rauf und runter.
Etwas durchatmen können wir auf der Osserwiese, bis in die 50er Jahre wurden Jungrinder und Stiere auf diese Freifläche getrieben. Nach dem Ende der Waldweide wurden viele dieser Plätze aufgeforstet oder wuchsen über Jahre hinweg zu. Im Rahmen einer Landschaftspflegeaktion wurde der Baumbestand aber wieder entfernt. So können wir uns heute auf einem wunderschönen Trail durch Borstgras und Heidekraut schlängeln. Der letzte Abschnitt unseres Downhills wird nochmal richtig heftig, auf einer groben Schotterpiste geht es streng bergab.
Furioses Tromsö
Nach zwei Kilometer Straße werde ich schon erwartet, ein junger Mann begleitet mich abseits der Straße bis zum Streckenabschnitt Tromsö. Übersetzen würde ich das mit „Spielplatz für Steinböcke“. Nein, nicht wirklich, aber ich kenne den Abschnitt und freue mich auf das, was jetzt folgt. Der jugendliche Helfer nimmt mir erstmal die Stöcke ab, damit ich besser die Felsen hochkraxeln kann. Ja, normalerweise hängt hier ein Seil herunter und man kann sich am Felsen hochhangeln. Ich bin spät dran, daher hat man das heute schon abgebaut.
Furios geht es weiter, ich muss mich durch Felswände quetschen, sie übersteigen und auch wieder runterkraxeln und auf fußbreiten Trails auf und ab balancieren. Da ist wirklich Vorsicht geboten. Das wahre Vorbild dieses spektakulären Trailrunning Freak-Show liegt im norwegischen Tromsø, so deren Schreibweise. In der Fjordlandschaft nördlich des Polarkreises, fand vor Jahren eines der härtesten und abenteuerlichsten Trailrennen der Welt statt. Veranstalter waren keine Geringeren als Kilian Jornet und Emelie Forsberg.
In Anlehnung an dieses Rennen hat man diesen Abschnitt Tromsö getauft, der zwar eine Nummer kleiner als das Original ist, aber mindestens genauso viel Spaß bereitet. Fußbreite Pfade auf wunderbar weichen Waldböden wechseln sich ab mit kurzen, ausgesetzten Graten und immer an diesen fabelhaften, fast vollkommen von Moos bewachsen grünen Felsbrocken vorbei. Nur langsam komme ich voran, ich möchte diese aufregenden Felsenensemble auch richtig aufsaugen. Zudem könnte ein Fehltritt natürlich auch fatal sein. Es geht zwar nie allzu weit runter, aber es würde vermutlich trotzdem schlecht ausgehen. Aber ich habe Zeit, zur Hälfte des Bayerwald-Tromsö ist meine Sollzeit abgelaufen, was soll ich mir noch Stress machen.
Heute habe ich die wundersame Welt der grünen Felsen ganz für mich alleine und kann sie ausgiebig genießen und auch fotografieren. Niemand ist vor und nach mir zu sehen und auch nicht zu hören. Einen Kollegen weiß ich noch hinter mir, so ist mir auch der Besenläufer noch nicht auf den Fersen. Zu verdanken haben wir diesen Hochgenuss im Übrigen Max, dem Vorstand vom Team Gamsbock. Er hat diese fast schon in Vergessenheit geratenen und oftmals bereits zugewachsen Pfade vor einigen Jahren in Erinnerung gerufen. Um sie auch beim U.TLW in die Strecke integrieren zu dürfen, mussten zwanzig Waldbauern ihr Okay geben. Danke Max, für dieses großartige Highlight im Namen aller Trailrunnerinnen und Trailrunner.
Nach der Wallfahrtskapelle Maria Hilf beginnt der fast nahtlose Übergang in den „Holy Trail“, sinnigerweise liegt dieser genau oberhalb des Lamer Ortsteils Himmelreich. Großartig unterscheidet er sich nicht von Tromsö, die Felsen sind vielleicht etwas weniger und kleiner und zwischendrin stehen mehr Fichten. Eine davon ist geschmückt wie ein Weihnachtsbaum, mittlerweile ist er auch schon legendär. Dieser wird im Übrigen nicht vom Veranstalter extra für den Lauf hergerichtet, sondern er steht hier immer in voller Pracht, weil er von einem Unbekannten regelmäßig gepflegt wird. Wenig später bin am Ende von Tromsö und dem Holy Trail, insgesamt drei Kilometer Trailvergnügen toujours. Was für ein grandioses Finale einer eh schon Begeisternden U.TLW-Runde.
Eine Wiese führt uns bis oberhalb des Ortsanfangs von Lam, von hier kann man noch einmal von unten einen Blick auf das gesamt magic U. werfen. Anderthalb Kilometer führen noch sanft abwärts bis auf dem Marktplatz. Der Zielbogen ist schon abgebaut, vor mir auf der Bühne findet bereits die Siegerehrung statt und das Marktplatzfest ist im vollen Gange, so überschreite ich ziemlich unbemerkt von einem Offiziellen die Ziellinie. Hinter der Bühne versuche ich irgendwo ein Getränk aufzutreiben. Der Verpflegungsstand im Zielbereich ist ebenfalls bereits abgebaut. Ich war einfach 40 Minuten zu lange unterwegs. Aber der Herrscher über die Leerkästen hat noch ein Radler in der Hinterhand für mich.
Ein paar Minuten vor mir ist Ingo eingetroffen, mit seinen Töchtern und Frau sitzt er am Trottoir. Da geselle ich mich doch gerne dazu. Es gibt viel zu erzählen und wir freuen uns gemeinsam, trotz unseres Zeitrückstandes zum Cut-off und dem damit verbundenen mutmaßlichen DNF das Ziel laufend erreicht zu haben. Wir gehören immerhin auch zu den ältesten im Starterfeld.
Unterbrochen wird unsere Unterhaltung von einem Telefonanruf auf ein Mobiltelefon seiner Tochter. Ingo und natürlich auch ich werden von der Zeitmessung und der Orga vermisst, wir haben uns nicht gemeldet. Natürlich haben wir nicht im Entferntesten daran gedacht, uns bei irgendwem abzumelden, nachdem wir ja die Strecke komplett absolviert haben und auch durch das Ziel gelaufen sind. Nur halt ein paar Minuten nach dem Zeitlimit. Am Telefon kann alles zur Zufriedenheit geklärt werden.
Spät am Abend im Hotel werfe ich noch einen Blick auf die Ergebnisliste und traue kaum meinen Augen. Vermutlich aufgrund der hohen Temperaturen oder was auch immer, hat man alle die über 11 Stunden benötigten, einschließlich mir, als letzten gewerteten, mit genauer Endzeit, heuer erstmals in die Wertung aufgenommen. Somit findet eine fantastische Veranstaltung, letzten Endes auch für mich noch einen großartigen Abschluss.
Von knapp über 400 Starterinnen und Startern beim Ultra Trail, haben sich heuer fast 50 ein DNF eingehandelt. Mit dem König vom Bayerwald ist nicht zum Spaßen. |