Der
Blick auf die Starterliste lässt erahnen, mit welchen Hintergedanken
auch ein Großteil der anderen Läufer/innen hier antritt:
Die meisten wollen einfach nur Spaß haben. Zu nennen wären
da Lucky Luke samt seinem Gaul Jolly Jumper, Julius Cäsar und
Cleopatra, Jack Sully aus Avatar, Obelix, Elvis, Jesus, Biene Maya,
das Phantom der Oper und, und, und…
Ich hab mir für alle Fälle für Montag frei genommen.
Nicht, dass es ein Problem wäre, meinen Nachhauseweg, nach
dem Marathon noch anzutreten, sondern weil hinter dem „Marathon
du Vignoble d’Alsace“ wesentlich mehr steckt. Die deutsche
Bezeichnung für das bevorstehende Wochenend-Vergnügen
lautet nämlich „Elsässer Weinberg-Marathon“.
Nicht weniger als 12 Hindernisstationen, vollgepackt mit Wein und
anderen Spezialitäten aus dem Elsass, gilt es auf der Strecke
zu überwinden.
Die Anreise ins französische Département Bas-Rhin, zu
Deutsch: Unteres Elsass, wird derzeit aber etwas erschwert. 41 km
der A3 werden zwischen Baden-Baden und Offenburg 6-spurig ausgebaut.
Und auch die Ausfahrt Straßburg ist heute gesperrt. Aber es
gibt mehrere Wege und letztendlich erreiche ich über Landstraßen
auch mein Ziel.
In Dorlisheim verlasse ich die französische Schnellstraße
und ab hier ist die Anfahrt zur Marathonmesse vorbildlich ausgeschildert.
Direkt neben dem Ziel und Veranstaltungsplatz befindet sich der
Campingplatz von Molsheim. Mit Jan treffe ich mich hier, er hat
bereits eine Woche Elsass hinter sich. Wer ein billiges Wochenende
verbringen will, ist hier goldrichtig. Insgesamt sind für Jan
und mich und unser Zelt 10 Euro pro Nacht zu berappen.
Ein Gesundheitszeugnis ist in Molsheim Pflicht, ohne gibt es keine
Startberechtigung. Abzugeben ist es beim Empfang der Startunterlagen.
In unserer Tüte befindet sich neben der Startnummer noch ein
kostenlos gestellter Chip, der im Ziel wieder abgenommen wird und
Gutscheine für die Spätzle-Party vor dem Lauf und dasselbe
noch einmal für den Hunger nach dem Lauf, jeweils mit 3 Gängen
und inklusive Getränk. Hier kann man wählen unter Cola,
Wasser, Bier und natürlich Wein. So genau nimmt das hier aber
keiner. Nachschlag ist kein Problem, besonders begehrt sind die
in Deutschland Liebesknochen genannten, wahlweise mit Schokolade
oder Kaffeecreme gefüllten Éclairs. Mehrere Tabletts
werden bei uns am Tisch davon verdrückt.
Unten auf dem Vorplatz werden selbstverständlich am Weinstand
auch die hiesigen Weine angeboten, zu Preisen wie man sie höchstens
im Supermarkt bekommen kann. Die Flasche Crémant ist für
10 Euro zu haben und findet reißenden Absatz. Die Spätzle-Party
im ersten Stock, im großen Saal des Hotel de la Monnaie hat
es in sich. After-Race-Partys sind hinlänglich bekannt, hier
geht aber bereits am Vorabend die Post richtig ab, in einer Form
wie man es selten erlebt. Hier ist nicht zu einer bestimmten Uhrzeit
Schluss, sondern am Abend wird erst richtig aufgedreht. Zwei DJs
kommen auf die Bühne und bringen die Menge zum Siedepunkt.
Die Stimmung ist sensationell, der Crémant fließt in
Strömen, es wird auf den Tischen getanzt, am Boden gerobbt.
Spaliere zum Durchlaufen werden gebildet und es wird in unterschiedlichsten
Tanzvarianten gefeiert, bis sich die Balken biegen.
Startzeit ist um 7:30 Uhr, aufgrund der für gewöhnlich
um diese Jahreszeit herrschenden Hitze. Leider ist heuer die Schafskälte
dazwischen gekommen, daher fröstelt uns bei wenigen Plusgraden
am frühen Morgen doch erheblich. Aber der Tag verspricht sonnig
mit angenehmen Temperaturen zu werden. Im Eingangsbereich des Cora
Supermarktes in Dorlisheim können wir uns etwas verkriechen
und Kaffee gibt’s obendrein. Meine Zielsetzung für heute
lautet, auf alle Fälle nicht unter 5 Stunden, was geht wird
gekostet und getestet. Als Bayerischer Löwe versuche ich die
Härteprüfung Elsässer Art durch zu ziehen.
Die erste Degustation kommt bereits nach 2,5 km. Der Begriff bezieht
sich auf professionelle Verkostung, die der Begutachtung von Produkten
dient. Für uns in Form eines Sylvaners. Die weiße Rebsorte
zählt zu den sieben wichtigsten Trauben, die im Elsass angebaut
werden. Sein Fruchtspiel erzeugt gleich eine wunderbare Eröffnung
des Tages an Gaumen und Rachen, dazu wird uns mit Gugelhupf das
traditionelle Elsässer Sonntags-Frühstücksgebäck
aus Hefeteig gereicht. Eine Legende besagt, dass die Heiligen Drei
Könige auf ihrem Rückweg von Bethlehem das Elsass bereist
hätten, wo sie herzlich empfangen wurden. Zum Dank hätten
sie ihren Gastgebern einen Kuchen gebacken, angelehnt an ihren Turban.
Viele sind heute Morgen ohne Frühstück gestartet und nützen
diese erste Anlaufstelle, um das nachzuholen.
Auf den nächsten drei Kilometern dürfen wir durch die
ersten Weinberge auch bereits die ersten 70 Höhenmeter absolvieren,
aber dafür können wir in Mutzig die nächste Weinprobe
antreten. Die V-Station dazwischen mit Wasser und Sportler-Verpflegung
werden doch sichtbar schwächer frequentiert. Abermals wird
uns Gugelhupf angeboten aber diesmal in Verbindung mit einem wunderbaren
Pinot Blanc. Man kann förmlich die Aromen von Banane, Aprikose,
Karamell, Zitrone und Heu herausschmecken. Mit seiner feinrassigen
Säure ist er eigentlich der passende Wein zu zart gebratenem
Fisch und Geflügel, aber der Kuchen passt in diesen Morgenstunden
natürlich besser.
In einer Schleife führt uns der Weg nach Molsheim zurück.
Nach km 8 gibt es für größer Gewachsene eine erste
Bewährungsprobe zu überstehen. Es geht unter einer tiefen
Betonbrücke durch, wer jetzt bereits zu tief ins Weinglas geschaut
hat und vergisst den Kopf rechtzeitig einzuziehen wird sich eine
Beule holen. Ich kann gerade noch realisieren, dass die Höhe
für mich nicht reichen wird und komme unbeschadet durch. Der
nächste Prüfstein folgt auf dem Fuß am Ortsende
von Molsheim bei km 9,5. Ein grünstichiges, blass-gelbes Farbenspiel
mit dem Namen Riesling. Seine ausgezeichnete Verträglichkeit
mit zahlreichen Gerichten macht ihn zu einem viel gefragten Favoriten
bei Feinschmeckern. Wir bekommen dazu Bretzeln serviert. Wieder
haben sich viele eingefunden und können den Verlockungen nicht
wiederstehen.
Über Dachstein führt der Weg zu Weinstation Nr. 4. Obwohl
man es vom Namen vermuten könnte, sind diese Kilometer ohne
nennenswerte Steigungen zurückzulegen. Auf die Station in Ergersheim
habe mich richtig gefreut, hier steht der Ofen, in dem uns Flammkuchen
frisch gebacken wird. Leider hab ich die Rechnung ohne die riesige
Gruppe gemacht, die kurz vor mir abgezogen ist und alles Essbare
ratzeputz verdrückt hat.
Jan war auch dabei. Jetzt dauert es wieder etwas, bis Nachschub
da ist. Gut, dann nehme ich Vorlieb mit einem exquisiten Crémant,
von dem gibt es noch reichlich. Der Begriff Crémant wurde
Frankreichweit eingeführt, als sich die Weinbauern der Champagne
erfolgreich beim Verbot der weltweit gebräuchlichen Bezeichnung
Champagner zur Charakterisierung der Flaschengärung durchsetzten.
Boah, seine 12 % fahren mir für kurze Zeit in die Glieder.
Direkt nach dem Ortschild von Ergersheim dürfen wir wieder
an Höhe gewinnen. Unterwegs lese ich Jan auf, er hat noch einen
vollen Magen vom Flammkuchenstand, darum muss er etwas langsamer
machen. Ja, recht geschieht es ihm, weil er mir alles weggefuttert
hat. Die nächsten 4 Kilometer durch die Weinberge beinhalten
auch 50 Höhenmeter - auf zum Teil schwierigem Geläuf.
Der längste Anstieg ist über einen Kilometer lang, die
wenigsten haben aber heute Lust, den Weg hinauf zu laufen, wandern
ist angesagt.
Obwohl der Begriff Berg meines Erachtens etwas zu hoch gegriffen
ist – ich würde eher sagen Hügel – beängstigend
sind sie nicht. In Dahlenberg bei km 18 kann ich aber endlich meinen
Hunger stillen, es gibt gegrillte Wurst. Ich bin anfangs skeptisch.
Grillwurst während eines Marathons? Aber der Hunger überkommt
mich und ich greife herzhaft zu. Ah, schmeckt richtig super, da
geht’s mir gleich wieder viel besser. Zur Wurst wird Pinot
Blanc serviert. Ich stille erst mal ausgiebig meine Bedürfnisse,
bevor es weiter geht.
Pünktlich zum Startschuss des Halbmarathons treffen wir in
Scharachbergheim ein, sie starten zweieinhalb Stunden nach den Marathonis.
Das bedeutet, ich bin zeitmäßig genau im Soll. Gut, dass
sie sich vom Acker machen, so ist mehr Platz am Weinstand. Zu Stollen
mit Marmeladenfüllung wird ein 2008er Pinot Gris serviert,
unverkennbar mit seinem ungewöhnlichen Aroma von Ingwer, Birnen
und anderen Gewürzen. Man ordnet ihn den weißen Sorten
zu, obwohl die Haut der Beeren rötlich bis rot gefärbt
ist. Jedoch wird nur der reine Most der Pinot Gris-Trauben genutzt,
so dass der Wein meistens eine kräftige goldgelbe Farbe erhält.
Ich kenne ihn schon von gestern, ...exquisit.
Die Beine werden langsam schwerer, gut dass der folgende Kilometer
aus der Ortschaft abwärts führt. An einer Pferdekoppel
steht Lucky Luke und lässt seine Jolly Jumper mit rassigen
schwarzen Pferden schmusen. Eine einmalige Szene, keiner der des
Weges kommt, kann sich ihr entziehen. Ich könnte mich kugeln
vor Lachen. Über wunderschöne kleine Ortschaften geht
es nach Marlenheim. Hier ist der nördlichste Punkt unseres
Kurses und das Tor zur 170 km langen Elsässer Weinstraße
und wird daher auch offiziell Porte de la Route des Vins d'Alsace
genannt. Zwischen den Degustationen zieht sich das Läuferfeld
immer auseinander, aber am Weinstand versammelt sich die Meute wieder
für einige Zeit und lässt den Winzer hochleben.
So auch die Bunnys, die schon eine ganze Zeit die Location kurz
vor dem Ort belagern. Sie sind locker drauf, schunkeln, tanzen und
singen als ich ankomme. Zum Kosten gibt es Nudelsalat. Ja klar,
Wein gibt es natürlich auch und zwar aus der einzigen roten
Rebsorte, die das Elsass zu bieten hat. Pinot Noir vom gleich dahinter
liegenden Weingut Xavier Muller. In Deutschland nennt man ihn Spätburgunder
oder Blauburgunder. Seine Farbnuancen reichen von Ziegel- bis Tiefrot.
Typische Aromen sind Brombeere, Himbeere, Kirsche, Rauch, Leder
und ein wenig Holz. ...mmmh, mir ist er etwas zu trocken.
Bereits drei Kilometer weiter auf der Weinstraße ist vor dem
Tor der mittelalterlichen Stadtbefestigung von Wangen die nächste
Station erreicht. Zur Wurst mit Weißbrot wird uns wieder Riesling
serviert. Mit ca. 23 % Anbaufläche belegt er den größten
Anteil der wichtigsten Rebsorten des Elsass.
Nach Durchlaufen der Ortschaft mit seinen wunderschönen alten
Fachwerkhäuschen werden wir durch ein Tor wieder in die Weinberge
geleitet. Verbunden ist das natürlich auch mit einigen Anstiegen
auf vielfältigen Untergründen. Von Teer über Kies,
Gras und sogar grob zerkleinerten Dachziegeln ist alles dabei, aber
die Aussicht über die Weinberge ist großartig und entschädigt
für alles. In Traenheim liegt eine V-Station mit normaler Sportlerverpflegung,
etwas hinter einem Traktor versteckt kann man sich aber auch hier
mit einem Gläschen Wein oder Pils versorgen. Weiter führt
der Weg direkt durch den Hinterhof eines Winzers hinaus in die Weinberge. An blühendem Moon vorbei erwartet uns etwas außerhalb
der Ortschaft, mitten in der Pampa, ein nächster kulinarischer
Höhepunkt. Der vorzügliche Münsterkäse mit seinem
charakteristischen strengen Geruch ist es wert, vor dem Wein erwähnt
zu werden. Im Nu hat sich wieder eine ganze Gruppe versammelt und
lässt sich diesen Leckerbissen nicht entgehen. Mit seinem glatten,
weichen Teig verläuft er im Mund. Sachkundig gereift, wie dieser
hier, schmeckt er wunderbar mild.
Dazu gibt es Gewürztraminer. Von insgesamt 2.600 ha Rebfläche
mit Gewürztraminer Reben in Frankreich werden allein 2.500
ha im Elsass angebaut, definitiv einer meiner Favoriten. Ich mag
es etwas süßer ... Wie viele Favoriten hab ich denn heute
schon? Egal, auch Cornelia aus der Zaubererschmiede von Hogwarts,
Jörg der römische Legionär und Drummer Jan sind äußerst
angetan, hier lohnt es wieder länger zu verweilen. 31 km haben
wir hinter und noch drei Weinstationen vor uns.
Richtung Dangolsheim ist auf einem längeren Abschnitt ein Teil
der Autostraße für uns abgesperrt. In Bergbieten sorgt
die Feuerwehr für etwas Abkühlung, an ausgelegten Schläuchen
kann man sich vom Wasser berieseln lassen. Nach 6 Kilometern über
Straßen und Felder erreichen wir Dangolsheim. Hier ist der
Teufel los in Gestalt eines Urzeitmenschen und nennt sich Joe. Die
Stimmung am Delikatessenstand ist unglaublich ausgelassen. Es wird
gebusselt, gefeiert und natürlich getrunken und gegessen. Man
kann sich der Stimmung gar nicht entziehen, selbst wenn man wollte.
Man muss hier einfach ein paar Minütchen verweilen. Zum vorzüglichen
Pinot Gris werden uns feinste Pasteten mit Weißbrot aufgetischt.
Die Rilettes de Voillaile Pastete vom Geflügel zergeht auf
der Zunge. Später gibt es noch Wildschwein und andere erlesene
Sorten.
Irgendwann müssen wir weiter, sonst kommt der Besenwagen, hier
in Form eines riesigen Weinfasses auf einem Traktor. Fünf Kilometer
haben wir noch vor uns, die werden uns aber versüßt mit
noch zwei weiteren Weinständen.
Ja, ist denn heut schon Weihnachten? In Avolsheim werden uns kurz
vor Abschluss unserer Schlemmerreise doch tatsächlich noch
Lebkuchen und Orangen als Nachspeise vorgesetzt. Und dazu auch erstmals
ein fruchtiger Muscat. Der hat uns noch gefehlt in der Sammlung.
Wir haben jetzt alle sieben wichtigen Rebsorten des Elsass durch.
Zum krönenden Abschluss werden ein paar hundert Meter vor dem
Ziel noch Crémant und Mignardises (Kekse) gereicht. Die letzte
Hürde der Elsässer Härteprüfung ist somit überstanden.
Mit 5:41 laufen wir ins Ziel ein, genau so habe ich mir das vorgestellt.
Wir haben alles richtig gemacht!
Jan und ich haben alle Sorten durchprobiert und auch fast alle Speisen
getestet. Nicht Eimerweise, aber immerhin. Dazu haben wir den größten
Teil des Kurses auch laufend absolviert. Es ging leichter als ich
es mir vorgestellt habe und es ist machbar. Die Stimmung auf der
Strecke, die herrliche Landschaft, gepaart mit der vorzüglichen
Verpflegung machen diesen außergewöhnlichen Marathon
zu einem großartigen Erlebnis, der auf meiner Highlightliste
einen Top-Platz einnimmt.
Aber Vorsicht ist geboten, für diesen Lauf besteht Suchtgefahr!
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