Auf der zweiten Runde blieb mir nun also Zeit, um mich in aller Ruhe mit der Strecke selbst zu beschäftigen. Kurz nach dem Startbogen geht es also raus aus der Halle und danach gleich links. Teer und Kopfsteinpflaster wechseln sich ab. Nach vielleicht fünfzig Metern biegen wir im rechten Winkel nach rechts ab. An der Ecke stehen zwei Damen, die nicht nur darauf achten, dass niemand abkürzt, sondern sie applaudieren lautstark, indem sie zwei „Plastikwürste“ gegeneinanderschlagen …wie lange werden sie das wohl aushalten? Nun geht es geschätzte zweihundert Meter geradeaus, bevor es wieder im rechten Winkel nach rechts geht und dann kommt eine lange Gerade, wobei auf halber Strecke DJ Firewall an seinem Mischpult alles gibt um uns anzuspornen. Die Musik ist furchtbar und ich hoffe, dass er noch etwas anderes im Repertoire hat. Bald geht es natürlich wieder im rechten Winkel rechts weg und ich sehe Jörg Kaltwasser, der am linken Streckenrand Connys persönliche Verpflegungsstation aufgebaut hat. Da werde ich mir sicher das ein oder andere Mal auch was stibitzen.
Dann die kurze Gerade weiter und es geht ein letztes Mal scharf rechts weg. Auf der langen Geraden zur Halle wurde auf halber Länge die Verpflegungsstation aufgebaut. Wie schon in Ottobrunn fühle ich mich an das Büffet in einem guten Hotel erinnert. Diverse Getränke, egal ob warm oder kalt, Süßes, Salziges, Deftiges …alles da, was das Herz begehrt. Kurz vor der Halle laufen wir noch links um eine Ecke und dann über eine Kehre auf Kopfsteinpflaster zurück in die Grüne Halle. Die Kehre hat es etwas in sich, da das Kopfsteinpflaster uneben ist und zudem etwas abfällt. Ich habe sechs Stunden Zeit, um mir eine Taktik zu überlegen, wie ich da am besten um die Ecke komme, ohne meine Gelenke unnötig zu strapazieren.
Auf der Leinwand kurz nach dem Startbogen kann ich nun auch meinen Namen entdecken. Der Leih-Chip funktioniert also. Mehr Information kann ich in der kurzen Zeit aber nicht ablesen, denn hinter mir laufen dichtgedrängt weitere Läufer über die Zeitmatte, so dass mein Name schnell wieder aus der Anzeige verschwindet. Ich drehe weiter meine Runden und freue mich über die zahlreichen Teilnehmer mit Down-Syndrom, die erkennbar ihre Freude am Laufen haben. Da wird laut gelacht, gesungen und auf Höhe des DJ's, dessen Musik in der vierten Runde dann doch erfreulicherweise auf Rock aus den 80er Jahren umschwenkt, schon mal getanzt. So vergeht die erste Stunde erfreulich schnell und ich kann auch schon mal das Büffet ausprobieren. Warmer Tee, Hanuta und Nutellabrot habe ich ziemlich schnell zu meinen Favoriten auserkoren. Verhungern und verdursten werde ich also nicht. Nicht nur dass man relativ flexibel mit der Nahrungsaufnahme ist, mir zeigt sich bald noch ein weiter Vorteil des Rundendrehens. Meine Sporttasche hatte ich vor dem Start auf einer Parkbank direkt an der Strecke abgelegt und ich kann mich problemlos meiner Handschuhe entledigen, da es mir inzwischen doch warm geworden ist. Für den Fall der Fälle habe ich dort auch noch Wechselklamotten deponiert.
Auch die Spitzkehre vor dem Eingang zur Grünen Halle kenne ich inzwischen gut und laufe immer einen weiten Bogen. Das sind zwar immer zwei oder drei Meter mehr, aber meinen Knien tut das gut. Und so laufe ich weiter und weiter, Runde um Runde. DJ Firewall ist inzwischen bei AC/DC, Bon Jovi und Billy Idol angelangt. Das macht Laune, auch wenn die Akustik etwas zu wünschen übrig lässt. Nach zwei Stunden hat mich Michael schon das eine oder andere Mal überrundet, auch Charly habe ich schon zweimal ziehen lassen. Nun bekomme ich doch wieder kalte Finger. Von der versprochenen Sonne und den vorausgesagten 10 Grad gibt es keine Spur. Es dürfte immer noch drei Grad haben, der eisige Wind lässt es mir aber wesentlich kälter vorkommen und so greife ich in meine Sporttasche und zieh mir wieder die Handschuhe über.
Wie schon in Ottobrunn kommt bei mir und auch bei Charly nach etwas über zweieinhalb Stunden ein tiefes Motivationsloch. Wir sind ja doch schon ein Stück gelaufen und die Beine machen sich bemerkbar. Vor allem das Abbremsen und Wiederanlaufen vor den Ecken strengt doch mehr an als gedacht. Es sind noch dreieinhalb Stunden zu laufen, das Ziel ist noch in weiter Ferne. Ich drehe ein paar Runden mit Charly, wobei wir ab und an gehen, um uns wieder etwas zu erholen. Das klappt ganz gut und schließlich zieht jeder wieder seine eigenen Runden, da wir ja dann doch nicht dasselbe Tempo haben.
Nach drei Stunden ziehe ich eine erste Bilanz. Ich bin bei knapp über 25 Kilometern, muss also das Tempo weiterlaufen, will ich die 50 Kilometer heute knacken. Zudem weicht meine Laufuhr inzwischen um über 700 Meter von der Anzeige in der Halle ab. Möglicherweise führt das Durchlaufen der Halle zu Irritationen bei meiner Uhr. Da die Strecke ja amtlich vermessen ist, gibt es an der Anzeige auf der Leinwand keine Zweifel. Die Strecke ist inzwischen auch nicht mehr so stark frequentiert, da inzwischen ja alle Halbmarathonis das Ziel erreicht haben dürften. Ich versuche nun einfach meinen Trott weiterzulaufen und versuche abzuschalten. Nicht darüber nachdenken, wie lange es noch zu laufen ist. Das bringt mich weiter. Jede dritte Runde gönne ich mir eine kleine Gehpause und genieße währenddessen meinen warmen Tee und ein Hanuta. Ein paar Salzstangerl greife ich mir auch ab und zu und so vergeht die vierte Stunde relativ unspektakulär.
Mit Ablauf der vierten Stunde habe ich ein neues Motivationsziel gefunden. Das Absolvieren der Marathondistanz. Ich kontrolliere also ab und zu die gelaufenen Kilometer und schenke der verbleibenden Zeit keinerlei Beachtung mehr. Michaels Frau und dessen Eltern stehen nach einer längeren Abwesenheit nun auch wieder an der Strecke. Auch sie applaudieren mir und haben immer wieder aufmunternde Worte für mich. Es läuft wieder gut und ich verschwende keinen Gedanken mehr daran, dass das heute nichts werden könnte. Nach viereinhalb Stunden opferte ich drei Minuten und kramte die Wechselklamotten aus meiner Sporttasche. Mir war inzwischen etwas kalt geworden und trockene Kleidung tat einfach gut. Kurz darauf traf ich wieder mal auf Charly, auch er trug inzwischen neue Oberbekleidung. Dann ist auch bald der Marathon in der Tasche. Alles prima.
Irgendwann in der letzten Stunde schaue ich auch mal wieder hoch zur Anzeigentafel in der Halle und muss mich wundern. Mein Name taucht nicht mehr auf. Besorgt schaue ich auf meinen linken Schuh, doch der Chip ist noch da …wie hätte ich den auch verlieren sollen. Blödsinn. Auf einer weiteren Runde achte ich beim Einlaufen in die Grüne Halle darauf, dass ich genügend Abstand zu den Läufern vor und hinter mir habe und ich höre beim Überqueren der Zeitmatte ein deutliches Piepsen. Der Chip ist also noch aktiv. Da kann also nicht viel schiefgehen. Mein Name taucht trotzdem nicht auf. Die Sorgen um die Zeit- bzw. Wegmessung haben mich dermaßen abgelenkt, dass ich fast nicht bemerkt hätte, dass die 50 Kilometer auf meiner Uhr so gut wie voll sind. Cool. Mein Plan wird also aufgehen. Ich musste ja noch die Abweichung von meiner Uhr zur Zeitmessung mit einplanen. Wenn also meine Uhr 51 Kilometer anzeigt, sollte alles gut sein. Dachte ich, denn als ich etwa zehn Minuten vor Ablauf der sechs Stunden wieder auf die Anzeigetafel hochschaute, erkannte ich endlich meinen Namen wieder, doch dahinter standen 48,7 Kilometer …Halleluja, eine dermaßen große Abweichung hatte ich jetzt wirklich nicht eingeplant.
1,3 Kilometer in nicht mal mehr zehn Minuten. Klar, das ist eigentlich kein Problem, aber irgendwie war mir nicht wohl und so legte ich einen ordentlichen Zahn zu. Die letzte Runde bewältigte ich in meinem üblichen Halbmarathon-Tempo, was schon ordentlich an die Substanz ging. Kurz bevor ich wieder aus der Halle herauslief, die Erleichterung: 38 Runden und 50 Kilometer waren auf der Anzeigetafel zu lesen. Nachdem ich wieder aus der Halle heraus war, wollte ich wieder Tempo rausnehmen, da ich schon wirklich am Anschlag war. Das nahm mir mein Magen übel … mehr will ich zu diesem Thema nicht verlieren. Aber nach einer kurzen Unterbrechung lief ich weiter, noch ein paar hundert Meter als Zugabe. Kurz bevor ich ein letztes Mal DJ Firewall passierte, beendete er abrupt sein Musikprogramm und eine seltsame Stille kehrte ein. Ich schaute auf meine Uhr. Auch wenn die Kilometerangabe nicht stimmte, die 5:59 gelaufenen Stunden zeigten an, dass die letzte Minute lief. Die Streckenposten bewaffneten sich mit Luftdruck-Fanfaren und warteten auf das Signal, das uns vom Rundendrehen erlösen sollte.
Als die Fanfaren schließlich das Ende des 6-Stunden-Laufs besiegelten, blieb ich kurz vor der 900 Meter-Markierung stehen. Wäre ja tatsächlich fast noch ein Kilometer mehr rausgesprungen. Aber das war mir jetzt herzlich egal. Die 50 Kilometer waren geschafft und ich auch. Jetzt hieß es noch kurz abwarten bis die Helfer mit ihren Messrädern durch waren, um die tatsächlich gelaufene Strecke amtlich zu machen. Als mein Ergebnis protokolliert war, machte ich mich auf den Rückweg zur Parkbank, wo ich meine Sporttasche deponiert hatte. Charly war auch schon da, genauso wie Michael. Wir hatten alle unsere Ziele erreicht. Charly hatte die 55 Kilometer-Marke geknackt und Michael sogar unglaubliche 68 Kilometer, wofür er mit dem sechsten Platz belohnt wurde. Michaels Familie gesellte sich auch noch zu uns und wir schossen noch ein paar gemeinsame Erinnerungsfotos und tauschten uns über das Erlebnis „6-Stunden-Lauf“ aus. Auch wenn ich noch fix und fertig war, konnte ich schon wenige Minuten nach dem Ende mit Bestimmtheit sagen, dass es nicht mein letztes Lauf dieser Art sein wird. Charly und ich verabschiedeten noch unsere Lauffreunde, holten uns unser Finisher-Geschenk ab und fuhren zufrieden nach Hause.
In meinem Lieblingslokal am Kissinger Weidmannsee, in dem ich inzwischen traditionell jeden Marathon beende, erwartete mich diesmal eine kleine Überraschung. Mein wohlverdienter Zwiebelrostbraten, war mit einer aus Alufolie gebastelten Fahne verziert. Die Fahne trug die Aufschrift „#42“. Es war nämlich heute mein zweiundvierzigstes Finish bei einem (Ultra-)Marathon. |