Der Stirnbereich der Albhochfläche wird als Albtrauf bezeichnet. Er überragt das jeweilige Vorland zwischen 250 bis 400 Meter. Der Albtrauf zieht sich vom Staffelberg in Franken über Schwaben bis in die Schweiz. Im schwäbischen Part, in der Region zwischen Stuttgart und Ulm befindet sich der 113 km lange Fernwanderweg „Schwäbischer Albtraufgänger“, das ist exakt die Strecke des ALB-Traum 100.
Beim HALB-Traum über 57 km wird der Albtrauf nach 15 Kilometern verlassen. Auf zertifizierten Rundwanderwegen der „Löwenpfade“ durchqueren wir ab Deggingen das Filstal und treffen auf der gegenüberliegenden Talseite nach 35 km wieder auf den Albtrauf und somit auch auf die ALB-Traum-Strecke. Sechs Mal geht es Rauf und Runter, der Höhenunterschied hierbei liegt zwischen 400 und 760 Meter am höchsten Punkt der Strecke. Fast 2.000 Höhenmeter stehen somit für uns auf dem Programm.
Während ich im warmen Bettchen noch vom Lauf träume sind die ALB-Träumer bereits seit 4 Uhr Früh auf der Strecke unterwegs. Deutlich sympathischer ist mir dagegen, mit 9 Uhr die Startzeit beim HALB-Traum. Ich freue mich auf die landschaftlich sehr reizvolle Strecke aber auch auf das Treffen mit vielen Lauffreunden, die Starterliste ist gespickt mit alten Bekannten. Für mich ist Geislingen aus Augsburg gut und relativ schnell erreichbar, daher muss ich auch keine Übernachtung in Erwägung ziehen. Gesetzt den Fall, bietet der Veranstalter eine einfache, aber kostenfreie Übernachtung in der Turnhalle im Untergeschoss der Jahnhalle an. Wer das mag – insbesondere natürlich für Teilnehmer der langen Strecke – für den ist das sicherlich optimal. Ganz Schnarchfrei ist es aber vermutlich nicht.
Parkplätze gibt es um den Stadtpark und die Jahnhalle jede Menge, somit bin ich auch diese Sorge los und eigentlich viel zu früh vor Ort. Aber kein Problem, der Service ist großartig. Natürlich gibt es auch gratis Frühstück. Und das Ganze, inklusive Lauf, nur für eine Spende. Wer es noch nicht weiß, der ALB- und HALB-Traum sind Benefiz-Ultra-Trails, alle Startgelder werden gespendet. Im Vorjahr konnte so ein Erlös von 20.000 Euro erzielt werden bei 180 Startern. Heuer stehen 270 Läufer/innen in der Liste, mit dementsprechend mehr wird gerechnet. Bei Abholung der Startnummer bekommen wir unsere Spendenquittung. Eine tolle Sache wie ich finde. Wer hier ebenfalls einmal dabei sein will, sollte nicht lange überlegen. Wenige Tage nach Eröffnung der Anmeldung, waren für heuer alle Startplätze ausgebucht.
Um 8.10 Uhr findet das Briefing durch Andreas Bulling statt, einer der Gründer des ALB-Traum 100 e.V., neben Frank Weller und Andreas Löffler. Alle drei, bekannte Haudegen in der Ultraszene. Mittlerweile gehören acht Mitglieder dem Verein an, die sich die Unterstützung von sozialen Projekten als Ziel gesetzt haben. Als Vorbild dient ihnen die Brocken-Challenge, wo es ähnlich abläuft. Der wichtigste Hinweis für uns alle gilt der Orientierung: Immer den gelben Original Wandermarkierungen des Albtrauf bzw. der Löwenpfade folgen. An kritischen Stellen gibt es aber auch Markierungen in Form von Pfeilen auf dem Boden und einige eigene ALB-Traum-Wegweiser und auch Luftballons. Start ist neben der Jahnhalle. Bei traumhaftem Wetter wird kurz runtergezählt und der HALB-Traum ist gestartet. Im Übrigen gibt es heute nur eine Handstoppung der Zeiten und diese auch nur Minutengenau. Äußerst human ist das Zeitlimit für uns: 18:59 Stunden. Wer vorhat so lange unterwegs zu sein, dem wird aber dringend empfohlen eine Stirnlampe mitzuführen.
Der erste Kilometer führt uns durch die historische Altstadt von Geislingen. Wirklich schnell laufen darf hier noch keiner, der Abschnitt ist neutralisiert, auch die schneller wollen oder könnten, müssen hinter dem Führungsradler bleiben. Bleibt Zeit um die wunderschönen alamannischen Fachwerkhäuser zu bewundern. Rechts von uns liegt der Alte Bau. Er wurde um 1445 als achtstöckiger Kornspeicher errichtet und ist eines der größten Fachwerkhäuser Deutschlands. Heute beherbergt es das Geislinger Stadtmuseum und die städtische Galerie. Das älteste Gebäude der Stadt und des gesamten Landkreises Göppingen ist das Kornschreiberhaus, es folgt unmittelbar darauf. Es wurde 1397 über einem älteren Gewölbekeller erbaut und war ursprünglich mit Stroh gedeckt. Sehenswert ist auch das Alte Kauf- und Rathaus mit seinem auffälligen Glockenturm in der Hauptstraße die mit einem bunten Fahnenmeer geschmückt ist. Phantasievoll gestaltet von Geislinger Schülern und Schülerinnen im Kunstunterricht.
Am Ende unserer Altstadtbesichtigung müssen wir die B10 überqueren. Hier ist heute die einzige Straßenabsperrung durch die Polizei. Ansonsten gilt für den Rest der Strecke die Straßen-Verkehrsordnung.
Direkt im Anschluss beginnt unser erster Anstieg. Für die Racer gilt ab hier: Feuer frei. Bereits die ersten Kilometer lösen bei mir Freudengefühle aus, auf herrlichen Single-Trails zieht sich unser Weg hinauf bis zum Ostlandkreuz. Häufig wird es für ein Gipfelkreuz gehalten, aber es ist ein Vertriebenendenkmal. Es wurde 1950 von der Landsmannschaft der Südmährer, zum Gedenken an die Toten und Vertriebenen des 2. Weltkrieges errichtet. Es ist das höchste derartige Denkmal. Die mit Kupferblech verkleidete Stahlkonstruktion ist 22,7 Meter hoch. Die Arme des Kreuzes haben eine Spannweite von 7,5 Metern. Vom Rand der Steinbrüstung hat man eine wunderbare Aussicht über Geislingen und bis ins untere Filstal und zum Hohenstaufen.
Auf etwa 700 Meter Höhe geht es auf wechselnden Untergründen 2,5 km in leichtem Auf und Ab weiter. Hier sind auch einige Asphaltabschnitte, inklusive Straßenüberquerung dabei. Da sollte man etwas wachsam sein. Ab Kahlenstein geht’s wieder runter. Die zwei dem Albtrauf vorgelagerten Felsen liegen oberhalb Bad Überkingen. Ja, hier kommt das bekannte Mineralwasser her. Wir passieren die Felsformation hinterhalb, auf ganz schmalen eingewachsenen Pfaden. Im Gestein liegt die 150 m lange Kahlensteinhöhle, seit 1972 ist der Höhleneingang aber mit einem Gitter verschlossen. Die 25 m hohen Felsen werden auch gerne zum Klettern verwendet. Von hinten bekommen wir aber relativ wenig von den Felsen zu sehen.
So nach etwa 7 Kilometern liegt unser erster Berg hinter uns. Für 3 km geht es auf dem breiten Autalweg wellig weiter durch das Naturschutzgebiet. Im Flow übersehen Axel und ich beinahe die wunderschön bemooste Felskaskade einer Karstquelle. Da müssen wir nochmal ein paar Meter zurück für ein Foto. Im März blühen hier die Märzenbecher zu hunderttausenden.
Der Einstieg für unseren nächsten Aufstieg wird durch einen riesigen Pfeil und ein neonfarbiges ALB-Traum-Schild am Boden markiert. Treppenstufen führen uns steil hinauf zur Brunnensteighöhle und zum leider nicht gerade sehr ergiebigen wildromantischen Wasserfall. Der Pfad dahin ist dafür grandios.
Auf herrlichen Single-Trails folgen wir auf der Albhochfläche wieder den reichlichen Wanderzeichen des Albtraufgängers Richtung Ave Maria. Der Franziskusweg bietet uns zwei Möglichkeiten nach unten. Ein Posten meint, ich kann selbst wählen. Ich nehme den Treppenweg der mit Bildstöcken flankiert ist. Nach passieren der Wallfahrtskirche Ave Maria erreichen wir nach ziemlich genau 15 Kilometern die erste Verpflegungsstelle. Von Wasser über Apfelschorle und auch Bier wird alles angeboten. Dazu gibt es Obst, Gemüse und Nüsse, aber auch Würstchen, Käse und Kekse sind im Angebot.
Nach VP1 trennen sich die Wege von ALB- und HALB-Traum. Für uns geht es noch ein Stück auf dem geteerten Ave-Maria-Weg abwärts nach Deggingen. Ich laufe geradeaus durch den Ort, kann aber seit geraumer Zeit keine Streckenmarkierungen und auch keine Mitläufer mehr ausmachen. Ziemlich verunsichert wende ich mich an einen Fußgänger, der kennt aber auch nicht den Weg zu den Löwenpfaden, würde mich aber eher geradeaus weiterschicken. Ich weiß nicht so recht? Ein Rennradler gesellt sich hinzu und erzählt, er habe sich ebenfalls verfahren, aber er hat auf seinem GPS den Kurs installiert. Nach einem Check ist klar, wir müssen zurück. Der Radler begleitet mich einige hundert Meter und führt mich wieder zurück auf den richtigen Kurs. Beim Schild „Da lang! H57“ fällt mir ein Stein vom Herzen. Puuh, nochmal Schwein gehabt, das hätte schlimmer werden können. Mit bestem Dank verabschiede ich mich vom Radler. Nach einiger Zeit kann ich auch wieder einen Mitläufer vor mir ausmachen, aber das hat natürlich viel Zeit gekostet.
Nach etwa drei Kilometern auf Asphalt verlassen wir Fuß- und Radwege und biegen nach links ab. Es wird tierisch. Für 9 km müssen wir der „Wasserberg-Runde“ des Löwenpfads folgen. Man sollte sich ab und zu die Mühe machen, die Schilder mit dem markanten Löwenkopf genau zu beachten, so meine Empfehlung. Hier zählt nämlich das Kleingedruckte unter dem Löwenkopf und das ist der Name des Löwenpfades. Es gibt nämlich insgesamt 15 unterschiedliche Wanderrunden mit dem Löwenkopf, einige davon überschneiden sich. So kann es auch sein, dass mehrere Schilder an einem Pfosten angebracht sind oder sich eben eine Markierung mit einer anderen Löwenrunde überschneidet.
Der Einstieg ist bereits tierisch steil, ohne eine Windung werden wir anfangs mit bis zu 35 % Steigung gequält. Am Hexensattel bin ich wieder unkonzentriert, ich verpasse einen Abzweig und laufe geradeaus weiter durch den Wald auf den Haarberg. Bald bin ich mir aber meinem erneuten Malheur bewusst, da keine Löwenpfad-Schilder mehr zu entdecken sind. Es wurmt mich gewaltig. Etwas weiter links meine ich aber die Bergkante auszumachen und auch schon Stimmen aus der Richtung gehört zu haben. Ich beschließe nicht zurückzugehen, sondern querfeldein durch eine blühende Wiese mein Glück zu versuchen. Ich bin natürlich vorsichtig, das Naturschutzgebiet ist bekannt für seine zahlreichen und seltenen Pflanzenarten, darunter auch Orchideen. Nach hundert Metern erreiche ich tatsächlich wieder den richtigen Pfad der Wasserberg-Runde. Spaziergänger geben mir zu verstehen, dass auch schon einige Läufer mit Startnummern vorbeigekommen sind. Das ist zum zweiten Mal, gerade noch gut gegangen.
Viele Kilometer war ich ganz einsam unterwegs, jetzt kann ich wieder auf bekannte Gesichter aufschließen und sie auch überholen. Durch Wälder und Wiesen führen uns auf der Hochebene gut laufbare Wege immer leicht abwärts bis zum Dalisberg. Wir passieren eine mächtige, bereits teilweise verwitterte Wettereiche (km 25). Etwa 500 Jahre stand sie hier. Sie ist der Wappenbaum der Gemeinde Unterböhringen. 1999 wurde sie von Orkantief Lothar zerbrochen und gefällt. Es wurde aber bereits eine neue Eiche gepflanzt. Während der alte Baum zu Erde wird, soll der junge Baum zum neuen Wahrzeichen heranwachsen.
An der Bergkante hat man schöne Ausblicke nach Unterböhringen und ins Filstal. Etwas Sorge bereitet mir der Blick nach oben auf die Wolken am Himmel. Es zieht sich langsam bedrohlich zu. Der Abstieg erfolgt über schmale Pfade und Heideflächen. Vor mir kann ich Axel ausmachen, von dem ich mich eigentlich an VP1 abgesetzt habe. Lange hat’s gedauert bis ich wieder dank meiner Eskapaden aufgeholt habe. Die Hälfte unserer Bergbesteigungen ist geschafft, streckenmäßig fehlt noch etwas. 26,5 km liegen im Ort hinter uns.
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