Jetzt ging es an den Abstieg. Kurz hatten Charly und ich die Orientierung verloren, doch ein paar andere Läufer zeigten uns den richtigen Weg. Auf schneeglatter Strecke ging es nun bergab. Laufen war hier nicht mehr möglich. Charly tat mir hier besonders leid. Er war rund 10 Meter vor mir und mehrfach krachte er dermaßen auf den Rücken, dass ich schon vom Zuschauen Schmerzen bekam. Auch ich war vor Stürzen nicht gefeit. Manchmal zog es einem einfach die Füße weg. Doch im Gegensatz zu Charly landete ich irgendwie sanfter. Charly äußerte seinen Unmut lautstark nach jedem Sturz und erstmals hörte ich, dass Charly vom Aufgeben sprach. Dass ihm bald nichts anderes übrig bleiben würde, konnte er hier ja noch nicht ahnen. Kurz bevor wir die Verpflegungsstelle am Boenlesgrab ein zweites Mal erreichten passierte es. Vor einem Gatter ging es rund einen Meter steil bergab. Es war glatt und wirkte nicht gerade vertrauenserweckend. Charly tastete sich vorsichtig hinunter. Dennoch rutsche ihm der Fuß weg und er knickte dermaßen um, dass der Fuß um 90 Grad ab stand. Charly stieß einen Schrei aus und rappelte sich wieder auf. Die nächsten Schritte verhießen nichts Gutes. Er konnte nur noch unter Schmerzen laufen und auf rutschigen Streckenabschnitten ging gar nichts mehr.
Beide hatten wir im Kopf, dass bei Kilometer 35 ein Cut-Off kommt. Wir entschlossen gemeinsam dort auszusteigen und uns nach Rouffach zurückfahren zu lassen. Auf leichten Bergabwegen kamen Charly und ich erstaunlich gut voran und schließlich hatte ich die 35 Kilometer auf der Uhr, doch wir waren immer noch mitten im Wald. Als meine Uhr 36 und 37 Kilometer anzeigte, kam mir die Erleuchtung. Der Cut-Off bei Kilometer 35 stand in der alten Streckenbeschreibung. Die Strecke wurde kurzfristig um 2,9 Kilometer verlängert, zudem liefen wir ja in die entgegengesetzte Richtung, da die Strecke ja „umgedreht“ wurde. Das heißt der Cut-Off ist wo anders, wenn es überhaupt einen gibt.
In Osenbach, bei Kilometer 40,5 Kilometer erreichten wir dann schließlich doch den Cut-Off. Charly hat bis dahin übel gelitten und war noch ein paarmal böse gestürzt. Er hatte einfach keine Trittsicherheit mehr und die Schmerzen hatten ihn auch gezeichnet. An der Verpflegungsstelle in Osenbach kam auch gleich ein Verantwortlicher auf uns zu. Zum Glück sprach er gut Deutsch und wir erklärten, dass Charly verletzt sei und zurückgefahren werden müsse. Das sei kein Problem, der Cut-Off ist nämlich schon verstrichen und der Betreuer würde eh in zwei Minuten Richtung Rouffach fahren. War ich erleichtert, dass Charly endlich aufhören konnte. Nun fragte mich der Betreuer, ob ich denn noch weiterlaufen wolle. Ich zweifelte kurz, da die Straßensperren ja schon abgebaut wurden und zudem wollte ich Charly eigentlich nicht alleine lassen. Ich sah ihn kurz an und sah sein aufmunterndes Gesicht. Der Streckenposten erklärte mir, dass ich nur noch einen Hügel zu bezwingen hätte und wohl in einer Stunde im Ziel sei. Mir war nun auch klar, dass ich wohl der letzte auf der Strecke bin, wenn ich weiterlaufe, aber ich wollte eigentlich nicht aufgeben. Es waren ja nur noch 9 Kilometer. Da Charly gut versorgt war, entschloss ich mich weiterzulaufen und ich glaubte in Charlys Gesicht auch etwas Stolz zu erkennen. Mit dieser Gewissheit lief ich weiter.
Am Ortsende von Osenbach hätte ich mich fast noch verlaufen, da die Markierungen teilweise ja schon abgebaut waren. Aber ein netter Franzose brachte mich auf den richtigen Weg. Irgendwie fühlte ich mich jetzt wie neu, vor allem als mir meine Laufuhr durch ein Vibrieren zu verstehen gab, dass ich wieder einen Kilometer hinter mir hatte und ich sah, dass ich diesen in 6:34 min gelaufen bin. Zudem hatte ich jetzt den Marathon voll und alles was jetzt noch kam, machte mich zum Ultraläufer. Cool! Also weiter: Kurz darauf erkannte ich an einem leichten Anstieg vor mir zwei Läufer. Würde ich vielleicht doch nicht als letzter ins Ziel kommen? Also Gas geben und noch einmal alles geben. Irgendwie lief ich spielend an den beiden vorbei und wir grüßten uns auch nur kurz. Als ich den Wald passiert hatte, lag vor mir der letzte kleine Anstieg und was soll ich Euch sagen: Da lief vor mir schon wieder einer! Ein kurzer Blick auf die Uhr: Noch drei Kilometer, das geht. Auch ihn habe ich noch kurz vor der letzten Verpflegungsstation an der Oelberg Chapelle noch überholt. Die Verpflegungsstation ließ ich aus, ich hätte wohl eh nur noch Reste bekommen.
Das was jetzt noch vor mir lag, war nochmal der Wahnsinn. Ein rund ein Kilometer langer Single-Schlamm-Trail vom allerfeinsten. Ich stand teilweise bis zu den Knöcheln im Schlamm. Aber das machte mir jetzt nichts mehr aus, im Gegenteil ich hatte richtig meinen Spaß. Kinder würde man Schimpfen, aber da waren ja keine da die mich sehen konnte, also mitten durch. Die letzten zwei Kilometer lagen vor mir und ich war schon fast ein bisschen traurig, dass schon Schluss sein sollte. Steil ging es nun bergab und vor mir lag Rouffach. Eine Läuferin konnte ich beim Bergablaufen noch überholen. Sie sah recht mitgenommen aus und hatte offensichtlich Probleme. Ich ließ ihr ein paar aufmunternde Worte zukommen, die sie zwar nicht verstand, ab sie gab mir zu verstehen, dass sie schon klar kommt und so lief ich weiter. In Rouffach noch ein paarmal links und wieder rechts und da war er, der Place des Humanistes. Das Ziel! Die Verantwortlichen waren tatsächlich schon am Abbauen. Aber ich wurde trotzdem noch über den Lautsprecher begrüßt und die verbliebenen Helfer applaudierten noch anerkennend. Im Ziel bekam ich tatsächlich noch ein Finisher-Shirt und ein Tuch, dessen Funktion sich mir noch nicht erschlossen hat.
Besonders gefreut habe ich mich, dass Bernie und Janosch mich im Ziel begrüßten. Die beiden waren schon geduscht und mit dem Auto zum Ziel gefahren, um auf mich zu warten. Danke! Als ich nach Charly fragte, erzählten sie mir sofort, dass er schon geduscht im Bett liegt und alles in Ordnung ist. Er dürfte sich die Bänder am Knöchel ordentlich gedehnt haben. Bernie fragte mich, ob ich mit dem Auto zurück zum Hotel fahren wollte. Ich schaute kurz auf meine Laufuhr, 8 Stunden und 33 Minuten war meine Zielzeit und tatsächlich zeigte sie auch die vom Veranstalter angegebenen 49,7 Kilometer an. Zuhause sagte ich zu Silke noch, sollte das passieren, lauf ich noch dreimal um die Kirche, bis die 50 Kilometer voll sind. Das hab ich zwar dann doch nicht gemacht, aber ich verabschiedete mich bei Bernie mit den Worten: „Auto? Nein, danke, ich muss mich noch auslaufen …“ und so lief ich zurück ins Hotel und hatte tatsächlich erstmals in meinem Leben 50 Kilometer auf meiner Uhr stehen.
Im Zimmer traf Charly wieder und wir tauschten uns kurz auf. Zufrieden konnte ich feststellen, dass es ihm tatsächlich gut ging und zudem den Ausstieg gut verkraftet hatte. Und so blieb mir nichts anderes als mich unter die kalte Dusche zu stellen, denn warmes Wasser gab es für Nachzügler wohl nicht mehr. Auch meine, am Vortag neu erworbene Badehose musste im Rucksack bleiben, der Pool war wegen Renovierung geschlossen. Da mir noch etwas kalt war, legte ich mich ins Bett und schaute mit Charly gemeinsam die „Lindenstraße im Ersten“. Da hat Charly nämlich noch keine Folge versäumt und brachte mich schnell wieder auf`s Laufende, hatte ich doch die gefühlt letzten 5.000 Folgen versäumt. Mit einem netten Abendessen beim Italiener ließen wir den Abend ausklingen, bevor es am nächsten Morgen wieder nach Hause ging.
Rückblickend war es ein tolles Erlebnis, das jedoch manchmal hart an der Grenze des Machbaren war. Vielleicht hätte der Veranstalter die Strecke kürzen und den Petit Ballon herausnehmen sollen, aber offensichtlich war das Wetter selbst für die Elsässer nicht vorhersehbar und zudem hätten sie mich ja auch um meinen ersten Ultramarathon gebracht. Auf diesem Wege möchte ich Charly noch eine gute Besserung wünschen, damit er bald den nächsten Lauf in Angriff nehmen kann. Das Thema Ultramarathon ist für ihn, wie er mir versicherste, noch lange nicht durch. Für mich übrigens auch nicht. |